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Rede von Christian Teissl anlässlich der Jubiläumsveranstaltung „Jahrzehnteschnell / 30 Jahre – 70 Bücher“ am 30. 9. 2010 in Maria Enzersdorf - Südstadt

Rede auf Georg Bydlinski

Bei Angehörigen meiner wie auch der nachfolgenden Generation weckt der Name Bydlinski schöne Kindheitserinnerungen. Schließlich war es dieser Autor, von dem man gelernt hat, dass man „Lama“ auf „Pyjama“ reimen kann, dass ein jedes Ding, und sei es noch so unscheinbar, imstande ist zu träumen, und dass Freunde immer und überall wichtig sind. Unrettbar erwachsen geworden, verlieren viele, allzu viele den Zugang zur Poesie und lesen keine Gedichte mehr. Die Poesie erscheint ihnen wie ein verschlossenes Zimmer. Sie stehen vor den Türen zu diesem Zimmer – es sind ihrer unzählbar viele – und können keine einzige davon öffnen, da ihnen sämtliche Schlüssel abhanden gekommen sind.
Was Wunder also, dass nicht wenige Menschen, die Bydlinski gelesen haben, als sie Kinder waren, ihn aus den Augen verlieren, sobald sie, wie man so sagt, „mit beiden Beinen im Leben stehen“ und ihre Lektüre sich im Wesentlichen nur noch auf  Tageszeitungen, Rechnungen und Formulare beschränkt. Von seiner Lyrik und seiner Prosa für Erwachsene jedenfalls weiß nur ein vergleichsweise kleiner Kreis von Fachleuten, von passionierten Leserinnen und Lesern, und so teilt er das Los aller vielseitigen Autoren –: seine Zeitgenossen, zur Vereinfachung erzogen, suchen sich eine Seite heraus und ignorieren, so gut es geht, alle anderen.
Vielseitig war er bereits in seinen Anfängen, als literarischer Debütant vor dreißig Jahren. Weder hat er sich, wie dies gar nicht selten geschieht, nach jahrelanger Produktion von sogenannter „schöner Literatur“ auf das Kinderbuchschreiben verlegt noch umgekehrt mit Kinderliteratur begonnen, um dann irgendwann „höher hinaus“ zu wollen, sondern ist auf Anhieb in beiden Bereichen heimisch geworden, hat schon in jungen Jahren parallel für Kinder und für Erwachsene geschrieben und tut dies bis zum heutigen Tag. Wenn auch in seinem Werkverzeichnis die Kinderliteratur den weitaus größten Raum einnimmt und somit rein quantitativ an erster Stelle steht, so hat er doch stets beiden Möglichkeiten, beiden Ebenen seines Schreibens grundsätzlich die gleiche Bedeutung zugemessen und das gleich hohe Maß an Sorgfalt und Aufmerksamkeit gewidmet. Die zünftige Kritik allerdings, gewohnt, in Schablonen zu denken und Schubladisierungen vorzunehmen, hat davon nicht allzu häufig Notiz genommen; vielmehr hat sie geflissentlich übersehen, dass sich hinter Kinderbucherfolgen wie „Der himbeerrote Drache“ und „Der Zapperdockel und der Wock“ ein umfangreiches, vielschichtiges poetisches Werk verbirgt. In seiner beeindruckenden Spannweite reicht es von religiöser Lyrik („Distelblüte“, „Höre mich, auch wenn ich nicht rufe“) bis hin zu politisch-zeitkritischen Stenogrammen, wie sie der Band „Im Halblicht“ von 1991 enthält. Manches in diesem Werk ist Variation, nichts jedoch Wiederholung. 
Ob als wortkarger Lyriker oder als traditionsbewusster Prosaschriftsteller, der sein Erzähltalent unter anderem in der Kurzgeschichtensammlung „Kopf gegen Beton“ und den beiden Romanen „Wurfparabel“ und „Satellitenstadt“ unter Beweis gestellt hat, Georg Bydlinski zeigt sich immer um größtmögliche sprachliche Klarheit und Prägnanz bemüht. Er gehört nicht zu jenen, die Verständlichkeit für eine Schwäche, einen ästhetischen Mangel halten und die Qualität eines literarischen Werkes desto höher einstufen, je dunkler und rätselhafter es sich gebärdet und je schwerer es sich erschließt. Seine Texte, gerade auch jene, die sich an Erwachsene richten, sind leicht zugänglich, sind einfach, nie aber simpel; er verliert sich nie in den luftigen Höhen der Abstraktion, sondern bleibt stets auf dem Boden des Alltags, der konkreten Dinge und Verhältnisse.  Sein Tagwerk als Dichter besteht im Wesentlichen darin, „einen Blick“ zu suchen, „der frisch bleibt/ und alles verbindet“ (wie es in einem Gedicht des 1995 erschienenen Bandes „Wintergras“ heißt), inmitten des größten Lärms die Stille zu ernten, sie einzubringen in die Scheuer des Gedichts, und indem er das tut, indem er auch nach dreißig Jahren noch nicht müde wird, Wort an Wort zu reihen und Satz auf Satz zu bauen, geht er immer wieder aufs Neue in eine Schule der Aufmerksamkeit, in der er, ohne Lehrer und ohne Lehrplan, das Schauen, das Sprechen und das Schweigen von Tag zu Tag neu erlernt. –  In einem Gedicht mit dem Titel „Nachrichten“, das er der ihm geistes- und wesensverwandten Dichterin Friedl Hofbauer gewidmet hat, bringt er das folgendermaßen bündig, in der ihm eigenen Klarheit, zum Ausdruck:  

Wieder aufmerksam werden
auf die Neuigkeiten des Alltags:
die langsamen Schritte
des Nachbarn auf der Treppe
die Lieder der Kinder
der Regen   Wind
die Kaktusblüte

Neue Muster entdecken
Augenblicksmuster
Leben
verwoben ins deine

Mit dem Wort „Augenblicksmuster“ ist ein Schlüsselbegriff gefallen, ein Begriff, der in das Zentrum von Bydlinskis literarischen Ansatz führt, ist es ihm doch stets um die Erfassung, Beschreibung und Beschwörung von Augenblicksmustern zu tun und nicht bloß darum, sich an beliebige Augenblicke zu klammern wie an Strohhalme, sie festzuhalten, sie in der Sprache einzufrieren und auf diese Weise zu konservieren. Er ist weder ein Konservator noch ein Jäger und Sammler, sondern ein Passant im strengsten Sinne des Wortes, ein Vorübergehender. Auch dann noch, wenn er still in seinem Garten sitzt und die wachsenden Schatten beobachtet, ist er unterwegs; jedes Gedicht, jedes Wort,  jede Silbe bedeutet für ihn einen neuen Aufbruch, und er spricht aus der ungesicherten Position dessen, der nicht genau weiß, wann und wo er ankommen wird, wohin es ihn verschlägt, der nicht genau weiß, wie lange die Wegstrecke ist, die noch vor ihm liegt, und der daher mit seinen Worten haushalten muss. Alle seine Wege sind letztlich Umwege, alle seine Beschreibungen sind Umschreibungen. Zwischen flüchtigem Eindruck und genauem, verbindlichem  Ausdruck besteht sehr selten nur eine Direktverbindung, bequeme und verlockende Abkürzungen führen zumeist in die Irre. Der Weg von der Wirklichkeit zum Vers, von der Impression zum Gedicht geht durch viele Verwandlungen, viele Sprachlosigkeiten hindurch, und am Ende, wenn das Gedicht endlich auf dem Papier steht, bleibt doch immer noch das meiste darin ausgespart und ungesagt. „Zu viel/ verschweigen die Worte“ heißt es im großen lyrischen Epilog zum Band „Zimmer aus Licht“, in dem der Dichter das folgende Resümee, die folgende Zwischenbilanz gezogen hat:

Keine Worte
für den kaum spürbaren Duft
der ersten Blüten im Jahr
für die tauende Luft
vor dem Tauen des Schnees
für die Kinderhand die
nach Zuckererdbeeren riecht
für den roten Wein im bauchigen Glas 
den weißen im schmalen ...
Und welches Versagen schließlich
vor der Enzyklopädie
der Straßengerüche
vor Teer und Bäckerei?

Drum lieber nichts als:
Beobachtung
Drum lieber nur:
Schritt vor Schritt
Drum lieber:
Augen und Ohren offen  –
bis zum nächsten Entschluss

Georg Bydlinski hat sich, zu unserem Glück, nicht zum Schweigen entschlossen, sondern sich, trotz all ihrer Fährnisse und Unzulänglichkeiten, zu den Wörtern bekannt. Seit drei Jahrzehnten betreibt er mit der größtmöglichen Konsequenz eine literarische Mehrbeetwirtschaft: Das Beet, in dem Gedichte und Geschichten für Kinder gedeihen, und jenes, in dem er Lyrik und Prosa für sogenannte Erwachsene erntet, liegen nicht nur dicht beeinander, es bestehen zwischen ihnen auch etliche Querverbindungen, und so kann es immer wieder geschehen, dass manche Frucht hier wie dort wächst, dass ein und derselbe poetische Gedanke hier wie dort heranreift und Gestalt annimmt. In seinem Gedichtband „Schneefänger“ von 2001 findet sich etwa das Gedicht „Steigerungen“:

Ich bin gut zu Fuß
schneller allerdings
mit dem Fahrrad 

Noch größere Geschwindigkeit
versprechen mir
der Zug
das Auto
das Flugzeug

Am schnellsten bin ich
wenn ich am Schreibtisch sitze
mit einer neuen Idee

Da
bin ich immer schon
da

Und in der Sammlung von Kindergedichten „Ein Gürteltier mit Hosenträgern“ findet sich dasselbe Gedicht in verwandelter, kindgerechter Gestalt, unter dem Titel „Noch schneller“:

Ich kann weite Wege gehen,
noch schneller kann ich rennen.
Du kannst mich auf dem Fahrrad sehen
und wirst mich kaum erkennen,
so rasch bin ich vorüber.

Noch schneller fährt der Autobus
Noch schneller rollt die Eisenbahn
doch damit ist noch lang nicht Schluss;
das Flugzeug düst mit Affenzahn
nach Kanada hinüber.

Noch schneller rast die Mondrakete,
ihr Flug kennt keine Schranken;
doch eins verrat ich dir, mein Lieber:
Auch wenn ich auf der Stelle trete,
am schnellsten fliegen die Gedanken.

Obwohl inzwischen bereits zwei Auswahlbände vorliegen – „Zimmer aus Licht“ von 1999 und „Jahrzehnteschnell“ von 2009 – ist es keineswegs ganz einfach, die Fülle seiner Gedichte zu überschauen. Beim Kreuz- und Querlesen von Band zu Band begegnen einem nicht nur bestimmte Begrifflichkeiten, sondern auch bestimmte Themen und Motive immer wieder und wieder, und so liegt es nahe, dieses lyrische Werk in der ganzen Breite und Tiefe, in der es uns bislang vorliegt, schon der besseren Übersicht halber nach Gruppen zu ordnen: Da ist einmal die Gruppe der, wie ich sie nennen möchte, „Haus- & Familiengedichte“, die den familiären Alltag einfangen und reflektieren und von großer, inniger Zuwendung und Zuneigung geprägt und getragen sind (z.B.: Für ein Kind, Sohn, Erinnerungen an einen Weg (für Lukas), Im Schatten – Für Birgit, Drei Schneebälle für David, Gedicht für Lukas, Christian im Schnee, Krank sein, Abfahrt zum Schulschikurs); sodann die lyrischen Mitbringsel von Reisen, insbesondere von den vielen Lesereisen, die Bydlinski jahraus jahrein, mit dem Gitarrenkoffer und einem Koffer voller Bücher in der Hand, landauf und landab, von Schule zu Schule unternimmt (z.B.: Lesetour, Fahrtspiele; Kohelet auf dem Kölner Dom; Hartberg, Hotel Sonne); des Weiteren eine Gruppe von Gedichten, die ich als „Einübungen in die Stille, in das gestillte, gesättigte Schauen“ bezeichnen möchte (z.B.: Elementar, Im Dunkeln, Lichteinfall, Nature vivante, Mündung, Leuchtkäfer,Septembertag) und schließlich die wichtige Gruppe der poetologischen Gedichte, in denen nachgedacht wird über das eigene Schreiben, sein Woher und Wohin. Hier macht der Dichter Inventur in seiner Werkstatt und legt vor sich selbst wie auch vor seinen Leserinnen und Lesern Rechenschaft ab über sein Tun. Ich kenne nur wenige Dichter, in deren Lyrik das Wort „Gedicht“ derart häufig vorkommt wie bei Georg Bydlinski und in deren Werk das Gedichteschreiben als Vorgang, als Seinsweise, als Lebensform derart oft und derart konsequent thematisiert wird.
„GEDICHTE/ kann man nicht/ erzwingen // sie tauchen/ plötzlich auf//wie Schnecken/ nach dem Regen“ heißt es im hier bereits erwähnten und zitierten Band „Schneefänger“, und in der fünf Jahre später erschienenen Sammlung „Schattenschaukel“ finden sich gleich zwei Gedichte, die den Titel „Kleine Poetik“ tragen. Das erste davon lautet folgendermaßen:

Einen Keil treiben
in die  Wörterwand

einen Keil
aus Worten

der ein Sichtloch
freilegt

und die Sehnsucht
nach Weite

Dieser stark ausgeprägte Hang zur Selbstreflexion, der in seinem lyrischen Werk unübersehbar ist, zeigt sich auch in so manchem seiner Kinderbücher, etwa in dem 2006 erschienen Geschichtenband „Wie ein Fisch, der fliegt“. Zwischen den einzelnen Geschichten finden sich kleine Szenen, in denen der fiktive Autor dieses Buches sich mit seiner Tochter unterhält, die soeben erzählte Geschichte gegen ihre Kritik in Schutz nimmt und auf ihre Fragen antwortet, indem er ihr eine weitere Geschichte erzählt.

In die Werkstatt eines Dichters führt uns auch ein anderes Kinderbuch Bydlinskis, nämlich „Der dicke Kater Pegasus“, ein Zyklus aus überaus reizvollen Prosaminiaturen. Die letzte, den Band beschließende trägt den Titel „Neues vom Dichter“ und spricht die Leserin, den Leser, die Zuhörerin, den Zuhörer direkt an:

Wer glaubst du, hat dieses Buch geschrieben?
Und wie, glaubst du, ist ihm das gelungen?

Während sein Kater wieder einmal schlief,
hatte sich der Dichter heimlich einen zweiten Computer gekauft.
Der stand versteckt in der Besenkammer,
und immer wenn Pagasus einnickte, schlich der Dichter dorthin
und schrieb seine Einfälle auf.
Es wurden zwar keine langen Geschichten daraus,
aber doch einige kürzere und ein paar mittellange.

Und hin und wieder, wenn er Lust dazu hatte,
setzte sich der Dichter zu Pegasus ins Zimmer,
am liebsten auf den Fußboden,
und schrieb mit dem Kugelschreiber
auf seinen Schreibblock ein Gedicht

Lieber Georg, ich hoffe inständig – und mit mir hoffen wohl nicht allein alle hier Anwesenden, sondern darüber hinaus unzählig viele andere –, dass Du Dich noch oft und oft zu Deinem Pegasus in Dein Arbeitszimmer setzen und – ob nun mit Kugelschreiber, mit der Feder oder am Computer – ein neues Gedicht, eine neue Geschichte verfassen wirst. In diesem Sinne danke ich Dir von ganzem Herzen für Deine unermüdliche Arbeit, Deine vorbildliche Kollegialität, Deine Freundschaft und Deine unverwechselbare Sprache, die nicht aus dem Labor kommt, sondern aus dem Leben, nicht die virtuose, aalglatte Sprache eines Elfenbeinturmbewohners ist, sondern unverkennbar die liebevolle, nährende Sprache eines Familienmenschen – in unserer gegenwärtigen Literatur eine Seltenheit, etwas Kostbares, das ich auf keinen Fall missen möchte.

 

 

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