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Dieser Artikel wurde verfasst für: »Mein erstes Manuskript«, 60 Kinder- und Jugendbuchautoren erzählen von ihren ersten Schreiberfahrungen, Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Volkach e. V., Band 27, 2001

Meine "ersten" Manuskripte

"Mein erstes Manuskript" – das Thema scheint klar und eindeutig. Doch sobald ich nachzudenken beginne, stellen sich Fragen ein: Wie weit gehe ich zurück? Was bedeutet hier Manuskript – reicht es aus, dass ein Text mit der Hand geschrieben wurde? Muss er "literarisch wertvoll" sein oder gar später ein Buch ergeben haben?

Als ich neun war, schrieb ich das erste Mal etwas, das sich deutlich von Schulaufsätzen und Erlebnisberichten zu vorgegebenen Themen unterschied. Ich verfasste, aus eigenem Antrieb, aus Spaß am Reimen und rhythmischen Fabulieren, ein sechsstrophiges »Affengedicht«. Es beginnt mit den folgenden, mir unvergesslichen Zeilen:

Ein Affe fuhr mit seinem Schlitten
durch den verschneiten Affenwald;
im Sommer pflückt er meistens Quitten,
die hat er dann verzehret bald.

Meine nächstjüngeren Brüder, Zwillinge, nahmen das Gedicht in ihre Klasse mit, wo es vorgelesen wurde. Die Familienerinnerung berichtet, dass ein Lehrer mein Gedicht für eines von James Krüss gehalten habe. Mein Stolz war damals riesengroß – auch wenn der Lehrer wohl nur mit halbem Ohr zugehört hatte.

Mit vier Ohren zugehört haben mir meine Brüder, die Zwillinge, öfters am Abend, wenn ich vor dem Einschlafen im gemeinsamen Kinderzimmer erzählte, Geschichten improvisierte, in die ich als Zutaten allerlei Szenen, Personen und Ideen aus meiner eigenen Lektüre einstreute, vom Mickymausheft bis zum Abenteuerroman. Mündliche Erzähltradition, könnte man sagen, lange Zeit vor dem ersten ernst zu nehmenden Manuskript …

Als ich sechzehn, siebzehn war, entstanden viele Texte auf Englisch – handgeschriebene Nachspürungen meiner Gefühle und Gedanken in dieser Zeit, wobei die Sprache die Gedanken oft "überholte" und in ihrem Klang aufhob. Ich wollte dunkle, schwierige Manuskripte verfassen, die nicht auf den ersten Blick zugänglich sind. Die Song-Poesie eines Leonard Cohen hat Atmosphäre und Phrasierung meiner Versuche stark beeinflusst, später kam noch der Einfluss von Bob Dylan dazu. Und einige der längeren und metrisch regelmäßigen Texte habe ich mit Melodien versehen und zur Gitarre gesungen – in das kleine Mikro unseres ersten gemeinsamen Kassettenrekorders hinein, dessen Anteile ich den Zwillingen gegen meine Anteile an der Briefmarkensammlung abgetauscht hatte. Dass diese frühen Manuskripte auf Englisch entstanden (unter häufiger Zuhilfenahme des Wörterbuchs auf der Suche nach ausgefallenen Reimwörtern) erscheint mir heute, neben der Faszination durch Cohen- und Dylan-Songs, als notwendiger Umweg: die Verwendung der Fremdsprache hat einige Bremsen außer Kraft gesetzt, einige Barrieren abgebaut, sodass ich über die eigenen Emotionen überhaupt schreiben konnte. Ich habe aber in dieser Zeit auch besonders gemerkt, dass gestaltete Sprache Emotionen erzeugen kann – im Schreibenden selbst und im Zuhörer oder Leser.

In der Zeit nach meiner Reifeprüfung erkannte ich, dass ich mich in der Muttersprache doch vielfältiger und nuancierter ausdrücken konnte. Die Liebe zum Englischen ist geblieben, aber abgesehen von einigen Songtexten schreibe ich seither deutsch. Zunächst entstanden eher kurze Manuskripte: Gedichte und Kurzgeschichten. Die Jugendbuchautorin Käthe Recheis, mit der ich durch Zufall in Kontakt kam, ermunterte mich, Texte für Kinder zu versuchen; auch hier begann ich mit den kleinen Formen. Durch die Arbeiten für Kinder ist übrigens in der Folge auch meine Erwachsenenliteratur einfacher und verständlicher geworden.

Mein erstes Manuskript, das gedruckt wurde, machte mich, den damals 21-Jährigen, natürlich wiederum stolz; damit verbunden war eine gewisse Aufregung, ob und wie die Texte "ankommen" würden. Es handelte sich um fünf Gedichte, die im Juni 1977 in der Zeitschrift »Weite Welt« erschienen. Ich hatte erstmals Lyrik in einer Art und Weise aus der Hand gegeben, dass Menschen, die ich nicht persönlich kannte, meine Texte lesen, meine Sprachformen beurteilen konnten. Von nun an gehörte der Gedanke an eine mögliche Veröffentlichung dazu, wenn ich ein Manuskript verfasste; und der Wunsch, einmal hauptberuflich Schriftsteller zu sein, begann nach und nach spürbar zu werden.

Das erste Manuskript in Buchlänge, das ich an einen Verlag schickte, war ein Lyrikband für Erwachsene. Er kam jedoch nicht als mein erstes Buch heraus, sondern erst nach jahrelangen Verzögerungen, sodass ich in der Zwischenzeit schon fast alle Texte ausgetauscht oder umgeschrieben hatte; bei den Bearbeitungen habe ich viel von der sprachlichen Sensibilität meiner erfahrenen Wiener Kollegin Friedl Hofbauer profitiert, der ich meine Gedichte zeigte. Aus dem ursprünglichen Titel des Bandes, »Sprache des Schweigens«, war auf Vorschlag des Verlagslektors »Die Sprache bewohnen« (Jugend & Volk, 1981) geworden – ein Zitat aus einem meiner Texte und gleichzeitig ein Programm, das mir noch heute brauchbar erscheint.

Das erste Manuskript, das als Buch gedruckt wurde – obwohl ich es, chronologisch gesehen, nicht als erstes geschrieben hatte – war ein Kinderbuch: »Pimpel und Pompel aus Limonadien« (Herder, 1980), eine phantastische Erzählung, in die ich, ähnlich wie bei den improvisierten Abendgeschichten für meine Brüder in der Kindheit, unbefangen allerlei unterschiedliche Ingredienzien einstreute, um das Hauptthema zu veranschaulichen – die Ablehnung und spätere Annahme des Anderen. (Im Land Limonadien leben zwei Menschensorten, die dicken Pompel und die dünnen Pimpel, die einander gegenseitig schlecht machen und ihren Kindern täglich Vorurteile einbläuen – bis am Ende zwei dieser Kinder die Feindschaft zu einem Ende bringen, zu einem Miteinander verwandeln.) Das Thema ist mir wichtig geblieben, wie u. a. das später entstandene Bilderbuch vom »Himbeerroten Drachen« (Jugend & Volk, 1988; Tb. Obelisk, 2000) zeigt, der in einer Welt von lauter grünen Drachen vom Außenseiter zum Freund wird.

Es sind also viele "erste" Manuskripte, von denen ich berichtet habe. Und manchmal habe ich beim Schreiben den Eindruck, dass jeder Text, den man verfasst, auf seine Art ein erstes Manuskript ist – eine neue Herausforderung, für die man das Bisherige vergessen muss, um wieder ganz frei zu sein. Ein neuer Weg auf einer Landkarte, die man erst beim Gehen zeichnet. Ein Expeditionsbericht vom Blick auf eine neue "Welt" – egal ob als handgeschriebenes Manuskript im ursprünglichen Wortsinn, als Typoskript auf der guten alten Schreibmaschine oder als zeitgemäßer Computer-Text.

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